Naturschutzgruppe Witten - Biologische Station e.V.      
Naturschutz im mittleren Ruhrtal

Schwarzer Holunder (Sambucus nigra

Heilpflanze des Jahres 2024

von Jochen Roß


Die Wahl zur Heilpflanze des Jahres 2024 lenkt unsere Aufmerksamkeit auf einen ausgesprochenen „Menschenfreund“. Schon seit vorchristlicher Zeit dient er den Menschen als „Gesundheitsapotheke“. Über viele Jahrhunderte wird er deshalb hoch geachtet: der Schwarze Holunder, auch Hollerbusch und Fliederbeere genannt. Die alten Wittener nannten ihn auf Plattdeutsch „Höllertenstruk“ und ermahnten ihre Mitmenschen: „Vüor de Höllertenstruk maut mä de Haut awniemn“. Ob sie nun tatsächlich vor dem Holunderstrauch einen Hut abnahmen oder nicht, auf jeden Fall waren sie dankbar, dass er ihnen u. a. leckere Brotaufstriche,  vitaminreiche Gesundheitssäfte und wirkungsvolle Erkältungstees schenkte. Mineralstoffe wie Kalium, Magnesium, Eisen, verschiedene Vitamine, Eiweiße, Aminosäuren und Aromastoffe der Holunderblüten und -früchte bescheren dem Holunderbusch auch heutzutage noch höchste Anerkennung als Heilpflanze! Sie wirkt gegen Atemwegsinfekte, reguliert den Blutdruck, die Darmtätigkeit und stärkt das Immunsystem. In vielen Familien steht der Holundersaft bereit, um bei einer beginnenden Erkältung Abhilfe zu schaffen! Auch in der Küche findet die Jahresheilpflanze 2024 Beachtung in unzähligen Suppen-, Sirup-, Kuchen- und weiteren Anwendungen. Bei der aktuellen Tendenz zu einer bewussteren Ernährung steigen die Aussichten, dass all die Vorzüge unserer Jahresheilpflanze künftig erfolgreich als „Superfood“ angeboten werden, und zwar unter dem Slogan: „Gesundheit schmeckt gut!“

Nahe am Menschen
Der Hollerbusch gehört zur Familie der nur auf der Nordhalbkugel verbreiteten Moschuskrautgewächse. Diese Familie verdankt ihren Namen dem verlockenden Duft ihrer Blüten, der angeblich dem Lockstoff der Moschusochsen ähnelt. Unser Schwarzer Holunder wächst etwa 5 bis 7 m hoch, als Baum wird er bis zu 10 m hoch und kann sogar 100 Jahre alt werden. Er sucht quasi die Nähe des Menschen, und er ist sehr robust, auch bei Trockenheit. Sein ursprünglicher Standort sind Auenwälder und Ufergebüsche. Auch heute mag er noch feuchte, vor allem aber stickstoffreiche und schwach saure lehmige Standorte wie Waldlichtungen, aber auch Schuttplätze. Er gilt sogar als salzverträglich. Schon ab März bildet der Schwarze Holunder kräftige Zweige, die mit einem saftigen hellen Mark gefüllt sind. Diese anfangs zerbrechlichen Zweige werden bald zäh und biegungsfest. Das Mark im Inneren lässt sich dann mit einem Stab einfach herausstoßen, mit der Zeit stirbt es aber auch von selbst ab. So bauten sich traditionell viele Kindergenerationen aus hohlen Holunderzweigen laute Pfeifen, Flöten und Blasrohre. Das harte Holz nutzten die Erwachsenen  u. a. für Drechselarbeiten, aber auch als Brennholz. Typisch ist die korkige Rinde! Achtung, erst beim genauen Hinsehen entdecken wir auf den Zweigen sehr deutlich warzenartig vorstehende Korkporen („Lentizellen“)! Solche Öffnungen dienen dem Gasaustausch zwischen den Gewebezellen, sie sorgen also für „frische Luft“ in den Zweigen. Dass der Holunder die Nähe des Menschen sucht, beruht auf Gegenseitigkeit, denn schon immer waren die Menschen fasziniert vom Holunder und holten ihn in ihre Nähe. So fehlte er auf keinem Bauernhof, und er gehörte als „lebendige Hausapotheke“ in jeden Bauerngarten.

Verdauungsausbreitung
Gerade heutzutage verdient sich der Schwarze Holunder zusätzlich eine herausragende Bedeutung im Naturhaushalt, nicht nur in Feldhecken, sondern auch als Einzelstrauch. Etwa Mitte Juni öffnen sich die kleinen weißen Holunderblütchen in ihren großen schirmförmigen Trugdolden. Sie besetzen einen ökologischen Spitzenplatz: Unzählige Käfer- und besonders Insektenarten, angelockt durch den verführerischen Duft, tummeln sich in den Blüten, obwohl sie keinen Nektar vorfinden, lediglich Pollen! Diese Holunderblüten gelangen aber erst in den frühen Herbsttagen zu einer besonderen Bedeutung: Denn schon in der zweiten Augusthälfte und im September reifen ihre kleinen zunächst grünen, dann roten und anschließend tief schwarzen Steinfrüchte heran. Ob die Samen wirklich reif und damit vermehrungsfähig sind, signalisiert die „kluge“ Holunderfrucht durch ihre Farbe selbst: Rot bedeutet: Stopp, schmeckt noch nicht! Dunkelviolett-Schwarz bedeutet: Bitte, bedient euch! Jede der erbsengroßen Früchte enthält saftiges Fruchtfleisch und dazwischen drei kleine Steinkerne. Sie bescheren der Vogelwelt ein aufregendes Fest! Ornithologen haben bereits mehr als 60 (!!) verschiedene Vogelarten gezählt, die sich von den „Fliederbeeren“ ernährten! Mancher Naturfreund erlebt es mitunter mit Bedauern, dass “die Vögel fast alle Holunderbeeren wegfressen“. Aber das benötigt und beabsichtigt die Jahrespflanze 2024 doch geradezu: Ihr Fruchtfleisch lockt Vögel an, die harten Schalen der Steinfrüchte verhindern eine Schädigung des Samens im Vogeldarm, und der Vogel scheidet die Samen später unversehrt aus und verbreitet sie - eine sehr positive Version von „Verdauungsausbreitung“! Die erfolgreiche Marketingstrategie des Holunders punktet also nach dem Motto, den „Wünschen der Kunden zu entsprechen“: appetitanregendes und wohlschmeckendes Fruchtfleisch anbieten, eine Frucht nur so groß, dass sie noch als Ganzes bequem verschluckt werden kann,  und – wichtig! - sie muss sich leicht und problemlos vom Stiel lösen!! All diese Voraussetzungen erfüllt der Holunder und wirbt außerdem mit einem riesig umfangreichen Angebot! Ein großer Holunderstrauch produziert nämlich im Frühherbst etwa hunderttausend Beeren, das entspricht 12 Kilogramm!! Solche Angebote interessieren natürlich auch Säugetiere, von häufigen wie Eichhörnchen bis zu den selten gewordenen Bilchen. Aber gerade die Zugvögel, die im September ihre kräftezehrende Reise in den Süden antreten, machen von diesem so frühzeitigen Angebot gerne Gebrauch, um genügend Fettreserven anzulegen! Britische Ornithologen boten Staren und Singdrosseln sowohl die Beeren des Holunderstrauches als auch die Früchte des Weißdorns an. Ganz eindeutig entschieden sich die Vögel für den Holunder!! Es verwundert folglich nicht, dass  „Sambucus nigra“ quasi in ganz Europa bis weit nach Westasien hinein und in Nordafrika verbreitet ist.

Frau Holle und der Schwarze Holunder
Schon am Namen „Holunder“ erkennt man sein Jahrtausende altes hohes Ansehen bei den Menschen: Im Althochdeutschen hieß er „holuntar“, also „Baum der Frau Holle“. „holun“ ist nämlich der Genetiv von „holla“ und heißt eigentlich „gnädig, gütig“, womit aber auch eine germanische Göttin gemeint war. „tar“ bedeutet „Baum“. Die Fruchtbarkeits- und Totengöttin Holla, in manchen Gebieten bereits Holle genannt, war quasi eine germanische Mutter Erde. Sie beschützte Mensch, Hof und Vieh vor bösen Geistern und wohnte im Holunderstrauch, dem Schutzbaum der ganzen Sippe. Von daher achteten die Urahnen die Heilpflanze des Jahres 2024 auf ihre Weise: Sie legten dort Opfergaben nieder und zogen sicherlich auch bereits „den Hut“ vor ihr. Viele Jahrhunderte lang war es üblich, sich beim Holunder zu entschuldigen, wenn man ihn ausnahmsweise einmal beschneiden musste. Einen Holunder abzuhacken galt als sträflich! Die uns bekannte Frau Holle der Romantik machten übrigens erst die Brüder Grimm zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch ihre Volksmärchensammlung bekannt und beliebt. Diese Frau Holle hatte aber nichts mehr mit der germanischen „Quelle des Lebens“ zu tun. Sie sorgte im Märchen bekanntermaßen durch fleißiges Bettenschütteln für viele Schneeflocken auf Erden, darüber hinaus beeinflusste sie die damalige Gesellschaft in der Einschätzung, was gutes und was böses Handeln war: So verwies die Frau Holle die Frauen des 19. Jahrhunderts auf ihre Pflichten zur stets fleißigen, disziplinierten Hausarbeit und warnte sie davor, faul zu werden!

Ein alter Farbstoff mit Zukunft
Obwohl wir Menschen die Bedeutung des Schwarzen Holunders als Haus- und Hofstrauch und als Familienapotheke zunehmend aus dem Blick verloren haben, sieht sich die Heilpflanze 2024 durch eine neue zukunftsträchtige Aufgabe gefordert, dank ihrer schwarzen Beeren mit dem Farbstoff „Sambucyanin“. Lange haben die Menschen den Farbstoff genutzt zum Färben von Haaren und von Leder, Winzer nutzten ihn sogar für Rotwein! Erwachsene und Kinder ärgern sich einerseits über diesen Farbstoff, wenn er bei der Fliederbeerenernte wieder mal die Kleidung befleckt. Das kriegt man nicht wieder raus! Andrerseits bietet er aber große Vorteile: Er lässt sich nicht auswaschen, bleicht nicht aus und - wie man inzwischen weiß – er ist sogar resistent gegen ultraviolette Strahlung! Immer mehr Verbraucher fordern natürliche Farbstoffe anstelle von chemischen Farbstoffen, und so steigt das  natürliche Sambucyanin im Ansehen, es wird für die Industrie immer begehrter! Inzwischen sind in Deutschland und in Österreich bereits viele Hektar große „Holunderplantagen“ entstanden, auch mit neuen Holler-Züchtungen. Aus den Beeren gewinnt man die umweltfreundlichen Farbstoffe und verwendet sie für Süßigkeiten, Molkereiprodukte und andere Lebensmittel. Auch in der Bio-Textilindustrie und sogar für Kosmetika sind sie sehr gefragt. Trotzdem behält der Schwarze Holunder seine große medizinische Bedeutung sowie  eine führende ökologische Aufgabe im Naturhaushalt! Daneben sollte auch seine Rolle in der Kulturgeschichte der Menschen nicht in Vergessenheit geraten!
Danke Sambucus nigra!