Naturschutzgruppe Witten - Biologische Station e.V.      
Naturschutz im mittleren Ruhrtal

Die Blindschleiche (Anguis fragilis) - Reptil des Jahres 2017

von Jochen Roß

 

Die Namen des aktuellen Kriechtiers des Jahres sind verwunderlich: Die wissenschaftliche Bezeichnung "anguis fragilis" bedeutet "zerbrechliche Schlange". Aber dieses Tier ist gar keine Schlange, es sieht nur so ähnlich aus! Es ist eine Echse, der im Laufe der Evolution ihre Beine hinderlich waren. Noch heute können an ihrer Wirbelsäule die Reste von früheren Schulter- und Beckenknochen festgestellt werden. Ihre Fortbewegung sieht deutlich steifer aus als das geschmeidige Schlängeln der Schlangen. Unsere Vorfahren nannten das Tier zwar unwissenschaftlich aber recht passend einfach "Hartwurm". Der Beiname "fragilis/zerbrechlich" bezieht sich auf das von der Eidechse bekannte Phänomen einer Bruchstelle am Schwanzansatz: Wenn die Blindschleiche ergriffen wird, kann sie schadlos das Schwanzende abwerfen, das heftig weiter zappelt und wackelt und den Feind von der eigentlichen Beute ablenkt. Denn sie selbst kann sich auf diese Weise meist schnell in Sicherheit bringen. Allerdings klappt das leider nur einmal im Leben, es wächst nämlich kein ganzer Schwanz nach, sondern nur ein kurzer Stumpf. Der deutsche Name "Blindschleiche" legt nahe, das Tier sei blind. Auch das wäre falsch! Der Name stammt wohl von einer althochdeutschen Bezeichnung für "blenden", weil eine Schlange eher raue und stumpfe, die "Blendschleiche" dagegen glatte, in der Sonne glänzende Schuppen besitzt! Sehen kann das Reptil des Jahres recht gut, und es ist sogar in der Lage, die Augen mit seinen Augenlidern zu verschließen! 


Die Blindschleiche ist hierzulande eigentlich sehr verbreitet. Tagsüber lebt sie jedoch sehr versteckt und von Menschen unbemerkt an Waldrändern, in Wiesen, Parks und naturnahen Gärten, eben überall dort, wo es deckungsreich und etwas feucht ist, möglichst mit ein paar Sonnenbadestellen nahebei. Das Gebiss der Blindschleiche ist auf das Verspeisen ihrer Hauptnahrung spezialisiert: Nacktschnecken und Regenwürmer! Ab der Abenddämmerung ist Jagdzeit! Den Winter verbringt sie gerne in größeren Gemeinschaften frostgeschützt in bodennahen Höhlen, bis die späte Märzsonne sie in ihrem Winterquartier weckt. Nach dem Paarungsfest im April gebiert das Weibchen - meistens im Juli - etwa 10 bis 12 lebende, fertig entwickelte Jungtiere!! Mitunter wird sogar von 20 geborenen kleinen Blindschleichen berichtet. Auch dieses Lebend-Gebären unterscheidet unser Jahrestier von der - Eier legenden - Schlange. Offensichtlich ist es eine Anpassung an das Leben in den eher kälteren nördlichen Breiten. Direkt nach der Geburt sucht sich jeder kleine " Hartwurm" selbständig einen geeigneten warmen Platz, z. B. einen morschen Holzstamm mit Larven und Würmern im Angebot. Bis er seine Körperlänge von bis zu 50 cm erreicht hat, vergehen drei Jahre! Dazu muss er viele Male aus seiner zu eng gewordenen "Haut fahren", und jedes Mal ist bereits ein passendes glänzendes Schuppenkleid nachgewachsen! 


Eine Blindschleiche stirbt kaum aus Altersgründen, diese Grenze läge bei mehr als erstaunlichen 40 Jahren, wie bei stressfrei aufgewachsenen Exemplaren nachgewiesen wurde. Die Anzahl ihrer Feinde ist aber zu zahlreich: Greifvögel, Eulen, überhaupt alle größeren Vögel, außerdem Igel, Füchse, Marder, Schlangen, Hunde, Katzen… Vor allem sind es aber inzwischen die Menschen! Nicht nur mit Pestiziden und Schneckenkorn, sondern auch durch immer weiteren Straßen- und Siedlungsbau wird der deckungsreiche Lebensraum des Jahresreptils 2017 gestört und zerstört. Oft erfahren wir Menschen nur durch Reste überfahrener Blindschleichen davon, dass diese einst in Deutschland flächendeckend verbreiteten Tiere noch in unserer Nachbarschaft lebten. Heutzutage sind sie leider schon in die Vorwarnlisten der bedrohten Tiere aufgenommen.