Breitblättriges Knabenkraut (Dactylorhiza majalis)
Orchidee des Jahres 2020
von Hans-Christoph Vahle
Das Breitblättrige Knabenkraut (Dactylorhiza majalis) ist eine typische Pflanze artenreicher Feuchtwiesen. Schon im April entwickeln sich die breitlanzettlichen, dunkel gesprenkelten Blätter in einer bodennahen Rosette und Anfang Mai, wenn der Aufwuchs der Wiese noch niedrig ist, leuchten die violetten Blütenkerzen weithin sichtbar über dem Gras. Sie mischen sich dann mit dem bunten Blütenflor von gelben Sumpfdotterblumen, rosa Kuckucks-Lichtnelken, weißrosa Fieberklee und weißblühendem Kleinen Baldrian. Wenn die Gräser und Kräuter dann zum Juni hin höher aufwachsen, verfärben sich die Blütenstände braun und die Blätter sind kaum mehr in der dichten Vegetation auszumachen.
Die Feuchtwiesen mit dem Knabenkraut müssen regelmäßig gemäht werden, um Struktur und Artenreichtum zu erhalten. Zu späte Mahd fördert massives Wachstum von Binsen, Seggen und Hochstauden, die die Orchidee und auch andere Kennarten der Feuchtwiesen verdrängen. Spätestens Mitte Juni sollten die Wiesen gemäht sein. Dann allerdings sind die Samen des Knabenkrauts zumeist noch nicht ausgereift. Um dennoch ausreichend viel Samen zur Verjüngung der Population sicherzustellen, lässt man Altgrasstreifen stehen, die mehrere Blütenstände des Knabenkrauts enthalten. Diese sollten von Jahr zu Jahr an anderen Stellen liegen. Die Altgrasstreifen werden dann im August/September bei der zweiten Mahd mit abgeschnitten.
Früher war das Breitblättrige Knabenkraut weit verbreitet und recht häufig, weil es die Feuchtwiesen noch gab. So schreibt K. Hamdorff 1871 in seinem Verzeichnis der in der Umgebung Wittens wachsenden Phanerogamen „häufig z.B. Wiesen vor Gedern, Pferdebecken“. Und W. Schemmann gibt 1884 in seinen Beiträgen zur Flora der Kreise Bochum, Dortmund und Hagen für das Breitblättrige Knabenkraut als Verbreitungsangabe an: „an zahllosen Stellen in größter Menge“.
Doch diese Zeiten sind vorbei. Durch Grünlandintensivierung – verbunden mit Entwässerung, starker Düngung und Herbizideinsatz – sind die artenreichen Feuchtwiesen und mit ihnen das Breitblättrige Knabenkraut weitgehend aus der Landschaft verschwunden.
Ich möchte hier ein persönliches Erlebnis schildern, da ich seit meiner Kindheit mit dem Breitblättrigen Knabenkraut emotional sehr verbunden bin. Es gab in meiner Heimatlandschaft, dem Ravensberger Hügelland nördlich von Bielefeld, zahlreiche Niedermoorwiesen mit Dactylorhiza majalis. Wir machten oft Familien-Spaziergänge dorthin, doch da es sich um eine Orchidee handelte, war Pflücken strickt verboten.
In der Orchideen-Wiese, die meinem Elternhaus am nächsten lag, geschah eines Tages etwas Furchtbares: Bagger und Planierraupen waren unterwegs und schoben den Wiesenboden mit den Orchideen darin zu großen Dämmen zusammen – es sollte ein großer Angelteich entstehen, der die gesamte Wiesenfläche unter Wasser setzen würde. Das Ende der Feuchtwiese war damit besiegelt.
Angesichts dieser Katastrophe tat ich etwas, was „eigentlich“ verboten ist: Ich grub ein paar Wiesensoden samt Orchideen darin aus und setze sie an das Ufer meines Gartenteiches, wo sie mehrere Jahre lang wuchsen und blühten. Einige Jahre nach dieser Aktion bemerkte ich in unserem Gartenrasen violette Blüten, die sich an einem verbogenen Stängel dicht in das Gras drückten und die ich zunächst für die Braunelle (Prunella vulgaris) hielt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass es kleine Pflanzen des Breitblättrigen Knabenkrauts waren, die mit krummgetretenen Stängeln und zerknickten Blättern im Rasen wuchsen – in einem stark frequentierten Gartenrasen auf frisch-trockenem Lehmboden! Die intensive Suche ergab dann zahlreiche noch vegetative Jungpflänzchen, die im ganzen Rasen verstreut wuchsen.
Wir machten dann sofort ein „Schutzprogramm“, indem die Stellen mit den meisten Individuen von der regelmäßigen Mahd ausgenommen wurden. Hier entwickelten sich bald große, vitale Exemplare, die erst abgemäht wurden, wenn die Samen reif waren. Dadurch vermehrte sich das Knabenkraut noch stärker und war bald im ganzen Garten anzutreffen. Diese Situation hielt sich bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Elternhaus leider verkauft werden musste; Dactylorhiza majalis hat sich damit 40 Jahre lang an einem völlig untypischen Standort nicht nur gehalten, sondern sich stark ausgebreitet. Details dazu finden sich bei H.-Ch. Vahle (2001): Das Breitblättrige Knabenkraut (Dactylorhiza majalis (Rchb. Hunt & Summerh.)) in einem Bielefelder Gartenrasen. - Natur u. Heimat 61(2): 53-58.
Was soll man zu diesem merkwürdigen Phänomen sagen? Ist das eine Ausnahme? Anscheinend nicht, denn es gibt inzwischen mehrere Beobachtungen in der Richtung, dass Pflanzen, die einmal durch die Hand des Menschen gegangen sind, ihr „Verhalten“ ändern. Welche Gefahren, welche Chancen liegen darin? Zurzeit wird ja viel über die „neue Normalität“ geredet. Kann es sein, dass es auch eine neue Normalität für Pflanzen und Pflanzengesellschaften – und für ganze Biotope und Lebensräume gibt? Und welche große Verantwortung kommt da auf uns zu?