Europäischer Maulwurf (Talpa europaea) - Wildtier des Jahres 2020
von Jochen Roß
Die Wahl des Maulwurfs zum Wildtier des Jahres macht uns auf die verborgene ökologische Vielfalt unterhalb der Erdoberfläche aufmerksam. Für den Preisträger selbst ist es allerdings nicht die erste Auszeichnung. So ernannte Friedensreich Hundertwasser seinerzeit den Maulwurf wegen seiner Baukunst zum "Vater aller Architekten". Damit würdigte er das unterirdische Meisterwerk des Maulwurfs, ein insgesamt 100 Meter (!) langes System an verzweigten Jagdgängen, im Sommer oft nur 20 cm tief, mit einer komfortablen Wohnhöhle inmitten mehrerer Vorratskammern. Was sich in diesen Kammern ereignet, könnten wir eher einem Horrorkrimi zuordnen. Aber es ist einfach eine notwendige Überlebensstrategie: Der Maulwurf lagert hier einige hundert Würmer als Lebendfutter für die Winterzeit ein. Dazu beißt der Hausherr jedem Wurm kurzerhand den für den Orientierungssinn zuständigen Kopfteil ab! So sind die Opfer dazu verdammt, in Starre zu verharren und nicht fliehen zu können. Diejenigen jedoch, welche die ersten drei Monate unverspeist überleben, erhalten schließlich doch ihre Chance auf Flucht, denn in diesem Zeitraum kann sich der abgetrennte Teil des Wurms regenerieren! Außer an Speisevorräte hat der Vater aller Architekten auch an einen Getränkekeller gedacht: Er gräbt steile Spezialgänge, die unten in spezielle "Zisternen" mit Vorratswasser münden! Das gesamte Revier verläuft je nach Bodenart und Jahreszeit bis in mehr als 1 m Tiefe.
Der Erbauer dieses unterirdischen Reiches ist in Witten allgemein nur durch seine in Wiesen und Gärten auffälligen Erdhügel bekannt. Tatsächlich zu Gesicht bekommen hat ihn kaum jemand: ein weniger als 15 cm langes Säugetier mit dunklem, samtartigem Fell ohne eine Strichrichtung! Schon diese Feinheit des fehlenden "Strichs" zeigt seine optimale Anpassung an das Leben unter Tage: In den engen Gängen kann er sich problemlos sowohl vorwärts als auch rückwärts bewegen!
Doch in seiner langen unterirdischen Entwicklungsgeschichte hat er noch weitere erstaunliche Besonderheiten aufzuweisen: Seine kurzen Vorderbeine haben sich zu kräftigen Schaufeln weiterentwickelt, mit denen er innerhalb einer Stunde einen sieben Meter langen Gang auszuschachten vermag! Den Bodenaushub drückt er seitlich(!) über den Gang hinweg nach oben, eben als Maulwurfshaufen, der auch der Belüftung des Reviers dient. Zum Aufstöbern seiner Beute verfügt er über ein äußerst leistungsstarkes Riechorgan. Zusätzlich kann er damit elektrische Reize wahrnehmen, welche von Muskelbewegungen kleiner Bodenlebewesen ausgelöst werden! Seine Ohren, obwohl sie versteckt in einer Hautfalte liegen, können trotzdem jedes feine Nagegeräusch einer Larve auffangen! Dagegen sind die zwei Augen – wen wundert es bei der ständigen Dunkelheit - völlig untrainiert. In seiner perfekten Anpassung an den speziellen Lebensraum "sieht" der Maulwurf trotzdem sehr gut, und zwar mit Tasthaaren sowohl an der Schnauze als auch am Schwanz! Dadurch kann er die kleinsten Erderschütterungen von vorne und auch von hinten wahrnehmen. Auf diese Weise bestens ausgestattet jagt er unermüdlich Tag und Nacht und in allen Jahreszeiten Larven, Asseln, Käfer, Engerlinge und ab und zu sogar eine Maus! In 24 Stunden vertilgt er so bis zu 100 g Insekten und Würmer, mehr als er selbst auf die Waage bringt. Nicht nur an die Dunkelheit in seinem Lebensraum ist er perfekt angepasst. Auch an die relative Sauerstoffarmut "unter Tage" konnte er sich anpassen durch einen deutlich erhöhten Hämoglobingehalt im Blut.
Die Wohnburg eines Weibchens ist größer als die eines männlichen Maulwurfs. Es polstert darin ein Nest aus und bekommt meist zweimal im Jahr etwa vier noch blinde Junge. Bis zu sechs Wochen lang werden sie gesäugt, und in den darauf folgenden zwei Wochen wachsen sie zu selbständigen Maulwürfen heran. Sie suchen sich in gebührender Entfernung eigene Reviere und errichten dort neue Gangsysteme. In sozialer Hinsicht hat es sich für alle Maulwürfe bewährt, als Einzelkämpfer das Leben zu bestehen: Abgesehen von der Paarungszeit ist ein Maulwurf unverträglich zu Mitbewohnern. Konsequenterweise vertreibt er nicht nur Artgenossen, sondern auch jede Wühlmaus aus seinem Revier und verhindert dadurch Wurzelfraß an Pflanzen! Darüber müsste sich eigentlich jeder Gartenbesitzer freuen! Außerdem verhindert der fleißige Erdarchitekt mit seiner wirkungsvollen Bodenbelüftung und dem ausgeklügelten System an Drainagekanälen jede Staunässe im Boden. Zugleich liefert er "zuhauf" feinkrümelige Gartenerde, völlig kostenlos! Trotzdem ist er ein unbeliebter Nachbar. Auch in Witten sind nicht Greifvögel, Füchse oder Krähen, sondern gerade Menschen die hauptsächlichen Widersacher eines Maulwurfs. Manche Menschen verdichten und versiegeln die Böden, andere vergiften die Erde durch Biozide und damit auch die Fauna, von der Maulwürfe leben. Gartenfreunde dulden meistens keine Erdhügelchen rund ums Haus. Sie könnten diese Hügel gelassen einebnen, stark riechende Tücher oder intensiv duftende Zweige in die unterirdische Architektur einbringen, Kindergruppen laut im Garten lärmen lassen oder auf eine andere Art Maulwürfe vergrämen. Das Töten eines Maulwurfs ist allerdings nicht erlaubt. Maulwürfe sind inzwischen gesetzlich geschützt! Noch bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts wurden Maulwurfsbestände sogar berufsmäßig von "Maulwurfsfängern" dezimiert. Sie verkauften die besonders weichen Felle an die Bekleidungsindustrie zur millionenfachen Verarbeitung. Heute wird jede Maulwurfsverfolgung in NRW mit bis zu 5000 € geahndet, so dass die kleinen Hügelwerfer wieder ihr normales Alter von 2 bis zu 5 Jahren erreichen dürfen.
Der Name Maulwurf wird oft damit erklärt, dass er mit dem "Maul" Erde beiseite "wirft". Das stimmt so nicht! Vielmehr geht diese erste Silbe auf das alte deutsche Wort "molte" zurück, und das bedeutete schlicht "Hügel". In den ländlichen Bereichen Wittens ist auch heute noch sein alter Name "Moll" bekannt. Die Wahl des Molls zum Wildtier des Jahres 2020 sollte uns mit jedem seiner Hügel daran erinnern, dass auch der ökologisch wertvolle, schützenswerte Lebensraum Boden mit seiner Vielfalt an angepassten Wildtieren respektvoll geachtet und geschätzt werden muss.