Gemeine Wegwarte (Cichorium intybus) -
Heilpflanze des Jahres 2020
von Jochen Roß
Ein echter Hingucker
Wer erfreut sich nicht an den bildschönen strahlend blauen Blüten der Wegwarte? Ihr hübscher Blütenkorb besteht in Wirklichkeit aus unzähligen, unterschiedlich langen Zungenblüten, die sich kreisförmig zusammengefunden haben und wie eine einzige Blüte wirken. Völlig synchron öffnen sich die vielen Einzelblüten an einem sonnigen, frühen Morgen für den Besucheransturm an Schwebfliegen, Bienen, Hummeln, Käfern und Schmetterlingen. Aber bereits vormittags verblasst das kräftige morgendliche Blau allmählich zu einem Hellblau. Ab mittags schließt sich der Blütenkorb für immer. Wochen später werden sich die Distelfinken über die Samenkörner freuen. Bei nassem Wetter bleibt die "Blüte" ganz geschlossen in Erwartung trockenerer Tage. Für viele unserer Großeltern gehörte diese robuste Hofpflanze zu ihrem Alltag, denn sie wuchs sehr verbreitet von Juni bis Oktober an den ruderalen Rändern der Höfe, am Fuß von Mauern und entlang vieler – damals nicht asphaltierter – Wege. Aus alten Märchen oder aus der Literatur der Romantik war die "Blaue Blume" berühmt und den Menschen bekannt.
Wegen der kurzen Blühzeit von nur wenigen Stunden nannte man diesen sympathischen Hingucker am Wegesrand auch "Faule Magd". Ein weiterer volkstümlicher Name, nämlich Sonnenwendel, entstand aus der Beobachtung, dass der blaue Blütenkorb sich in seinen wenigen Blühstunden stets zur Sonne hin wendete. Bei geschlossenen Blüten wird die Wegwarte, trotz einer möglichen Höhe von mehr als einem Meter, in ihrer grau-grünen Umgebung kaum wahrgenommen. In Witten finden wir sie heute noch auf Schuttflächen und an Bahndämmen, z. B. in Bommern nahe dem NaWit-Naturgarten, ganz unverhofft auch inmitten des Berliner Platzes auf gepflasterten Kletterflächen oder im Rinnstein der Vormholzer Straße in Höhe der Siedlung, dort aber nur 20 cm hoch.
Wegwarte trinken oder essen?
Weitere Besonderheiten der Gemeinen Wegwarte erschließen sich aus ihrem wissenschaftlichen Namen "Cichorium". Zumindest ältere Menschen erinnert er sofort an die alte Bezeichnung "Zichorie". In früheren Zeiten bis in die Nachkriegszeit hinein war nämlich der Zichorienkaffee buchstäblich in aller Munde. Geschmacklich ziemlich nahe am "echten Bohnenkaffee", lediglich ohne Coffein und daher nicht anregend, wurde er bis in unsere Zeit sehr populär unter dem Namen "Muckefuck". Er ließ sich einfach und billig selbst herstellen, wenn die lange, dicke Pfahlwurzel der Zichorie klein geschnitten und geröstet wurde: Gemahlen und mit heißem Wasser aufgebrüht konnten sich fast alle Haushalte den "Kaffeegenuss" leisten. Heute findet sich diese Zichorie noch als Bestandteil z. B. im "Caro-Kaffee". Zu verdanken hat die Wegwarte diesen Ruhm König Friedrich II ("der Alte Fritz"), der auch die Grundversorgung der Bevölkerung durch die neuartigen "Kartoffeln" durchgesetzt hatte. Ihn interessierte ebenfalls die auf Sandböden sehr verbreitete Wegwarte mit ihren vielseitigen Inhaltsstoffen. Also entschloss er sich, in Berlin und Breslau große Wegwartenkulturen anlegen zu lassen und die Wurzeln in großen Fabriken zu verarbeiten. So startete der Siegeszug des gesunden und erschwinglichen "Preußischen Kaffees" in Europa.
Aber auch auf der Speisekarte sorgt die Wegwarte für manche Überraschung: Gärtnern gelang es schon vor Jahrhunderten, aus der ursprünglichen Pflanze die gesunden, mit Bitterstoffen angereicherten Salatblätter des Radicchio und aus ihren Wurzeln Chicorée zu züchten. Er wurde oft hinterm Haus angebaut: Wegwartewurzeln lassen sich den Winter über gut in Sand "einmieten". Bei völliger Dunkelheit bilden sich bis zum Frühling aus der Wurzel bis 20 cm lange und 5 cm dicke zarte Sprossen, Chicorée genannt! Ebenfalls ist die Endivie eine kultivierte Wegwarte! Ihr wissenschaftlicher Beiname "intybus" soll vom ägyptischen "tybi" (=Januar) hergeleitet sein, weil die alten Ägypter sie bereits als Wintersalat schätzten.
Heilpflanze des Jahres 2020
Nach einem alten Papyrustext wurde die Wegwarte in Ägypten schon vor 6000 Jahren als Pflanze mit Zauberkräften verwendet. Ihre angebliche Wirkung, im Kampf unverwundbar zu machen, war vermutlich auch damals umstritten. Aber eindeutige Nachweise belegen, dass sie bereits seit der Antike als Gesundungspflanze erfolgreich angewandt wurde! Dieser gute Ruf blieb über das Mittelalter hinaus bis in unsere Zeit erhalten, besonders seit Pfarrer Kneipp die Wegwarte als Heilpflanze gegen Magen-, Darm- und Lebererkrankungen und auch bei Appetitlosigkeit überzeugend empfohlen hatte. Insbesondere soll sie als Tee auf ganz sanfte Weise die Verdauungsfunktionen verbessern und sogar cholesterinsenkend wirken. Immer noch wird an ihr geforscht, und auch künftig wird sie in verschiedenen Arzneimitteln und in der Homöopathie vertreten bleiben. Die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten der "Cichorium" erkennen wir schon daran, dass sie bereits 2005 zum "Gemüse des Jahres" und kurz danach sogar zur "Blume des Jahres 2009" gewählt wurde. Aktuell ist sie nun die "Heilpflanze des Jahres 2020" und will damit nicht sich selbst, sondern das gesamte Feld der Pflanzentherapie in der Medizin ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücken.
Die "Blaue Blume" mit roten Blüten?
Leider haben die Bestände der Wegwarte u. a. als Folge des steigenden Flächenverbrauchs in den letzten Jahren stark abgenommen. In vielen Bundesländern wird sie bereits auf der Vorwarnliste geführt, in zweien ist sie sogar schon in der Roten Liste als gefährdet eingestuft. Wäre es da nicht ein Zeichen der Wertschätzung, ein Tütchen Wegwartesamen zu kaufen und ihn "betreut" auszusäen? An einer sonnigen Stelle auf steinigem, nicht zu saurem Boden? Achtung, im ersten Jahr erscheint nur eine unspektakuläre, flache Blattrosette! Aber ab dem zweiten Jahr erblüht die blaue Zauber-, Gemüse- und Heilpflanze als standorttreue Staude. Vielleicht verbreitet sie sich sogar im Umfeld? Und wer ihr die Zauberkräfte nicht wirklich zutraut, der sollte mal eine Blüte der Wegwarte in einen Ameisenhaufen legen: Verwandelt sich die blaue Blüte in eine rote?? Ob das nun Zauberei ist oder ein chemischer Prozess dank der Ameisensäure, muss jeder selbst entscheiden. Auf jeden Fall wird die Heilpflanze des Jahres 2020 auch künftig immer für eine neue Überraschung gut sein.