Die große Brennnessel (Urtica dioica)
- Heilpflanze des Jahres 2022
von Jochen Roß
Ahnungslos nähert sich ein Mensch. Ohne es zu bemerken geschieht eine ganz leichte Berührung. Dieser geringe Druck reicht! Blitzschnell bricht an der vorbereiteten Kanüle die rundliche Spitze ab, und in Sekundenbruchteilen ergießt sich eine schmerzhafte Säure über die Menschenhaut. Das Opfer zuckt vor Schmerz zusammen und reißt den Arm hoch, aber es ist wieder einmal zu spät: Die Brennnessel hat sich erfolgreich verteidigt! Dieses schmerzhafte Gefühl, sich an einer Brennnessel verbrannt zu haben, ist jedem bekannt. Die hauptsächlich aus Histamin und Ameisensäure bestehende „Giftsäure“ ist so hochwirksam, dass schon ein Millionstel Gramm davon Quaddeln auf der Haut verursacht. Eigentlich als Schutz gegen Fressfeinde hat die Brennnessel jeweils auf der Blattoberseite einzigartige Minilabore entwickelt, die von keiner Medizin-Hochtechnologie erreicht werden: Auf allerkleinstem Raum produziert sie in jedem Brennhaar gleichzeitig mehrere Wirkstoffe, und zwar so exakt dosiert, dass ihre Brennwirkung optimal gesteigert wird. Zusätzlich sind die Wirkstoffe in eine winzige, aber hygienisch einwandfrei versiegelte Einwegspritze eingebaut, die schon auf nur leichten Druck hin sicher und unkompliziert funktioniert. Eine wunderbare Erfindung!
Unsere Beachtung hat die Große Brennnessel aber nicht etwa nur wegen ihrer wirkungsvollen Wehrhaftigkeit verdient! Bereits seit der Antike ist sie als vielseitige Heilpflanze geschätzt. Im Mittelalter gehörte sie in Europa zu den bedeutendsten Heilpflanzen gegen rheumatische Erkrankungen und Asthma. Die Durchblutung schmerzhafter Körperteile förderte man damals mit einer „Urtikation“: Die betroffenen Stellen der Kranken wurden mit langen Brennnesselsträngen ausgepeitscht, sehr oft sogar erfolgreich! Der Arzt Paracelsus dagegen verfeinerte vor etwa 500 Jahren die Behandlungsmethoden und schrieb: „Wenn man die Brennnessel kocht und mit Pfeffer oder Ingwer mischt und auflegt, hilft dies bei Gelenkschmerzen!“ Heutzutage ist die „zweihäusige Brennende“, so die deutsche Übersetzung ihres wissenschaftlichen Namens, u. a. wegen ihrer entwässernden Wirkung hochgeschätzt. Als Tee oder Saft durchspült sie die Harnwege gegen Keime und Bakterien sehr gut und hilft bei Nierenproblemen. Die Nachfrage nach Brennnessel-Heilpflanzen ist heute so groß, dass unser so brennnesselreiches Land noch etwa 1000 t jährlich importieren muss. Wenn ältere Leute an die Notzeiten nach dem 2. Weltkrieg zurückdenken, dann gehört zu den wenigen positiven Erinnerungen sicher das Brennnesselschneiden aus dem Straßengraben. Daraus kochte die Mutter dann ein „Brennnesselgemüse“, ein leckeres Essen, an dem man sich mal richtig satt essen konnte! Junge Blätter, solange sie noch ohne Brennwirkung sind, gelten auch aktuell wieder als gesundes und wohlschmeckendes Gemüse und - im Salat - als vitaminhaltige Zutat. Ihr Vitamingehält ist deutlich höher als der eines Kopfsalates! Feinschmeckerlokale bieten mitunter gesunde und zugleich geschmackvolle Brennnesselsüppchen an. Selbst die im August/September heranreifenden Samenkügelchen bereichern jeden Salatteller.
Dass diese alteingesessene Heilpflanze übrigens so überaus häufig vorkommt, verdankt sie – ungewollt - den Menschen! In unberührter Natur findet man sie noch recht selten, aber mancher historisch interessierte Forscher hat aufgegebene und lange vergessene menschliche Wohnstätten an den Brennnesselbeständen in der Landschaft erkannt, die früheres menschliches Wirken verrieten. Überall, wo wir heute an Waldrändern und in Straßengräben – natürlich illegal! - Gartenabfälle ablagern, greifen wir in die vorhandene Natur ein und bereiten den Boden für noch mehr Brennnesseln, zu Lasten der ursprünglichen weniger konkurrenzstarken Vegetation. Intensive Bodendüngung und der Zuwachs an Stickstoffen in unserer Luft sorgen darüber hinaus für überdüngte und damit brennnesselfreundliche Böden. Je mehr Dünger im Boden, desto kräftiger und konkurrenzloser wächst die Brennnessel auf bis zu 1,50 m Höhe, manchmal kann sie sogar 3 m hoch werden!
Trotz dieses Eingriffs in natürliche Pflanzengesellschaften ist die Brennnessel ein unverzichtbarer Bestandteil unserer natürlichen Umwelt: Mehr als 150 heimische Tierarten sind direkt von ihr abhängig! Darüber hinaus liefern diese Tierarten oft die notwendige eiweißhaltige Nahrung für die Brut unserer Singvögel! Die Raupen von 25 der schönsten heimischen Schmetterlingsarten benötigen dringend Brennnesseln als Futterpflanzen. Wer sich über einen Admiral, Kleinen Fuchs, C-Falter oder ein Landkärtchen freut, sollte auch daran denken, welche Verdienste das „Unkraut“ Brennnessel an diesem Erlebnis hat! In größeren Brennnesselbeständen hängen etliche Singvögel ihre Nester auf. Selbst eine kleine Brennnesselecke in einem Garten ist bereits ökologisch gesehen eine gute Tat.
Kennen Sie das Nesseltuch? Das althochdeutsche Wort „nezzila“ lebt heute noch in „Nesseltuch“ und ebenso in unserer „Brennnessel“, denn auch als nachwachsender Rohstoff hat unser Tausendsassa seine Verdienste! Aus Brennnesselfasern haben unsere Vorfahren bis zur Einführung der billigeren Baumwolle hochwertige und strapazierfähige Stoffe hergestellt! Auch stabile Stricke und Netze fertigten sie daraus an. Gut, dass das alte Wissen um die Nesseltuchverarbeitung nicht völlig verloren gegangen ist. Denn heute reagieren manche Menschen allergisch auf Baumwolltextilien. Deshalb werden wieder vermehrt Hanf-, Flachs- und Brennnesselpflanzen angebaut, um aus ihren Fasern allergiefreie Textilien anbieten zu können.
Was die Zweihäusigkeit der „Dioica“ betrifft, so kann man bei den grün blühenden Brennnesseln schon von weitem erkennen, ob sie weiblich oder männlich sind: Die männlichen Blütenrispen stehen eher waagerecht! Nur bei trockenem, sonnigen Wetter vertraut der Nesselmann seinen Blütenstaub dem Wind an. Die weiblichen Blütenrispen dagegen hängen herunter. Ihre Narben haben kleinste Flaumfedern entwickelt, mit denen die Pflanze aus der vorüberziehenden Luft die männlichen Pollenkörnchen heraussiebt. Auf auffallende „schöne“ Blüten, die Insekten anlocken sollen, verzichten Brennnesseln ganz. Sie setzen voll auf Windkraft! Allerdings vermögen sie sicherheitshalber zusätzliche Nährstoffe zu speichern, und zwar in ihren weitreichenden, stark verästelten Wurzeln. Die überstehen jeden Winter problemlos! So wachsen selbst aus kleinen Wurzelteilchen im nächsten Jahr wieder neue Exemplare dieser vielseitigen und ökologisch unverzichtbaren Genies heran, die unsere Achtung verdienen. Und damit wir urtica dioica nicht als „olles Unkraut“, sondern als segensreiche Pflanze im Gedächtnis bewahren, ist sie für das Jahr 2022 zur „Heilpflanze des Jahres“ gekürt worden! Glückwunsch, du zweihäusige Brennende!