von Jochen Roß
Die Hülse, oft auch einfach Ilex genannt, ist weithin bekannt, aber nicht unbedingt anerkannt. Ist sie überhaupt ein Baum? In vielen Gegenden heißt sie einfach nur „Waldunkraut“, andererseits ist die immergrüne Hülse mit ihren roten Beeren ein geschätzter grün-roter Farbtupfer im sonst kahlen Winterwald. Sie gedeiht nicht überall. Besonders wohl fühlt sie sich auf schwach saurem und möglichst etwas steinigem Lehmboden. Strengen, langanhaltenden Frost mit Ostwind verträgt sie gar nicht; dagegen mag sie im Winter lange frostfreie oder frostarme Perioden. Die Sommerzeit sollte jedoch möglichst feucht ausfallen! Genau all diese Voraussetzungen erfüllt unsere Wittener Umgebung mit ihrem grundsätzlich milden, atlantisch beeinflussten Klima. Obwohl unsere heimische Hülse forstwirtschaftlich unbedeutend ist und daher nicht angepflanzt wird, ist sie doch in den hiesigen Wäldern sehr gut vertreten. Dafür sorgen allein schon die Beeren fressenden Vögel, die die unverdaulichen Samen reichlich im Wald verteilen. Dass schon seit Jahrhunderten in unserer Region die Hülsenwälder landschaftsprägend waren, erkennen wir noch aus Ortsnamen wie Hüls oder Hüllscheid. In Witten erinnern uns heute der Name „Hüllbergschule“ und die Ortsbezeichnung „Witten-Hüllberg“ an ein vormals markantes Hülsenwaldvorkommen.
Starke Namen
Eine weitere, schon seit Jahrhunderten landläufige Bezeichnung ist „Stechpalme“. Sie geht wahrscheinlich auf die frühen christlichen Umzüge zu Palmsonntag zurück, die an Jesu Einzug in Jerusalem und seine begeistert mit Palmwedeln winkenden Anhänger erinnern wollten. Weil Palmen aber hierzulande nicht zu beschaffen waren, begnügte man sich ersatzweise mit den einzigen immergrünen, aber stechenden Zweigen der lokalen Wälder, der „Stechpalme“. Der wissenschaftliche Name Ilex aquifolium leitet sich von der schon im römischen Reich bekannten Steineiche (Quercus ilex) mit ihren sehr ähnlichen Blättern ab. In Deutschland erinnert daran der früher häufige Name „Stecheiche“. Die markanten stechenden Blätter, die bereits unsere Vorfahren am Vorankommen im Wald hinderten, bestimmten auch ihre regional verbreiteten deutschen Namen: Stechhülse, Walddistel, Kratzdorn, Hollerdorn oder Dornbaum. In England ist die Hülse sehr häufig und heißt „holly“. Dass die Hülse geeignete klimatische Voraussetzungen auch in der Neuen Welt fand, verrät der Name des amerikanischen Filmzentrums „Hollywood“. Er stammt von dem dort ursprünglich vorherrschenden „Hülsenwald“! Eine überlieferte deutsche Redensart bezeugt wiederum den schlechten Ruf des stacheligen „Waldunholds“ in früheren Zeiten: „Ilse billse, keiner willse, die böse Hülse!“ Damit meinte man nicht nur die Hülse, sondern auch einen unbeliebten widerborstigen Menschen.
Evolutionsspuren
Wenn wir die Hülse auf Waldwanderungen als eng verzweigtes Sträuchergewirr erleben, drei bis vier Meter hoch im schattigen Schutz hoher Laubbäume, dann überrascht es schon, dass sie zum „Baum des Jahres“ gekürt wurde. An Einzelstandorten, wo sie geschützt wachsen kann, rechtfertigt sie aber die Einordnung als Baum. Sie wird bei uns etwa 15 m hoch, mit einem Stammdurchmesser von einem halben Meter! So kann sie es zu einem Alter von 300 Jahren schaffen, im besonders milden Wohlfühlklima Irlands und Englands berichtet man sogar von 500 Jahren! Weil der Jahresbaum 2021 aber innerhalb unserer Wälder den Wettbewerbsnachteil hat, zu langsam zu wachsen, fristet er hierzulande meist nur ein strauchartiges, stacheliges Leben im Unterholz. Der große Aufwand der Stachelzähne an jedem einzelnen Blatt ist aber ein kluger Schachzug der Natur: Die Hülse hat sich so im Laufe der Zeit einen wirksamen Schutz vor Wildfraß geschaffen! Gerade im Winter sind grüne Blätter beim Wild besonders begehrt. Das schädigte die Hülsenbestände stark! Als einige Exemplare „lernten“, dass Blätter mit kleinen spitzen Rändern vom Wild verschont blieben, verstärkten sie diese pieksigen Stacheln und sicherten sich mit dem Erfolgsrezept ihre Zukunft bis heute. Wer jedoch einen hochgewachsenen Hülsenstrauch genau betrachtet, der kann meist feststellen, dass dieser nur vom Boden bis in Augenhöhe Blattränder mit kräftigen Stacheln bildet! Mit zunehmender Höhe fallen die Stacheln schwächer aus, bis endlich noch höher, unerreichbar für jeden vierbeinigen Fressfeind, ausschließlich ursprüngliche glattrandige Blätter zu sehen sind! Eine Energiesparmaßnahme! In besonders strengen winterlichen Notzeiten frisst allerdings das Rehwild sogar die stechenden harten Blätter. Das geschieht jedoch nur in geringem Umfang, auch weil Hülsenblätter – sehr schwach - giftig sind. Größere Schäden richten schon eher die Fressfeinde aus der Luft an: die Ilex-Minierfliege (Phytomyza ilicis), die Ilexblattlaus (Aphis ilicis) und neuerdings auch der Asiatische Ilexspanner (Plesiomorpha flaviceps), ein ursprünglich subtropischer Schmetterling, der sich mit fortschreitendem Klimawandel bei uns auszubreiten droht.
Blütengeheimnisse
Die heimische Hülse ist zweihäusig und blüht etwa vom fortgeschrittenen Frühling bis zum Beginn des Frühsommers. Eine Vielzahl an Waldinsekten, besonders Wildbienen, profitiert von diesem Ereignis. Aber auch für Naturliebhaber lohnt sich ein genaues Betrachten der Blüten: Die männlichen Hülsen bieten nur kleine Blüten an. Sie bestehen im Wesentlichen aus den vier Pollen produzierenden Staubgefäßen. Auffälliger sind die großen rundlichen Stempel inmitten der Blüten, die wir an den weiblichen Hülsen betrachten können. Achtung! Am Grund der Blüten entdecken wir zusätzlich kleine verkümmerte Ansätze der männlichen Staubgefäße! Zurück an der Blüte des männlichen Strauches erkennen wir deutlich unterhalb der kräftigen vier Staubgefäße den rudimentären Rest eines weiblichen Stempels!! Diese Beobachtungen scheinen darauf hinzuweisen, dass die Hülse ursprünglich zwittrig war, und dass sie die „Geschlechtsumwandlung“ noch nicht voll abgeschlossen hat.
Von der Blütezeit zum Winter
Trotz ihres immergrünen Aussehens erneuert die Hülse ihre einzelnen Blätter fast unbemerkt etwa alle drei Jahre. Von Mai bis in den Juni hinein sind die neuen Blätter-Austriebe gut zu beobachten! Den Singvögeln bietet dann das aus vielen Wurzelverzweigungen hervorgeschossene bodennahe Hülsendickicht deckungsreiche Brutmöglichkeiten. Später mit dem beginnenden Herbst erkennen wir Menschen die Zweihäusigkeit der Hülse ganz offensichtlich: Die schlicht grünen männlichen Hülsen tragen keine einzige Frucht. Dagegen ziehen die weiblichen Hülsen mit ihren attraktiven knallroten Beeren im Kontrast zu den dunkelgrünen Zweigen unsere Blicke auf sich! Vorsicht! Die Giftstoffe dieser Beeren können in größeren Mengen für Menschen tödlich wirken! Nach dem ersten Frost sind sie aber für etwa ein Dutzend Vogelarten gut bekömmlich und werden als sichere Rücklage für winterliche Notzeiten aufbewahrt. Besonders lecker sind sie jedoch offensichtlich nicht. Derweil nutzt die Hülse im Winter die relativ hellen Lichtverhältnisse am Boden geschickt für sich selbst zur notwendigen Fotosynthese, was die schattenwerfenden, belaubten Baumnachbarn im Sommer kaum zulassen.
Hülse und Menschen
Der immergrüne Laubbaum hat die Menschen schon seit vielen Jahrhunderten fasziniert. So sollen sie schon früh zu Beginn des Winters Hülsen-Schmuckzweige in ihre Wohnhütten geholt haben, um guten Walddämonen Schutz vor der Kälte anzubieten. Das helle, etwas gedreht wachsende und recht harte Holz wurde später ein begehrtes Material zum Schnitzen und Drechseln. Goethes berühmter Wanderstock aus Hülsenholz wird heute noch im Museum ausgestellt, und auch in Harry Potters unglaublichem Zauberstock steckt natürlich die Hülse. Zweige mit roten Ilexfrüchten inmitten der dunkelgrünen Stachelblätter auf dem Tisch gehörten schon vor dem Aufstellen erster Tannenbäume zu den Weihnachtstraditionen Großbritanniens. Im 19. Jahrhundert wurden sie auch auf dem Kontinent, sogar außerhalb der Hülsenwaldbiotope, zu einem begehrten dekorativen Winterschmuck und damit zu einem Handelsobjekt. Das führte zu einer Ausbeutung mancher Hülsenwälder. Hinzu kam, dass die Einheimischen inzwischen in den stacheligen Hülsenblättern eine willkommene Hilfe im Kampf gegen Mäuseplagen sahen: Sie steckten Hülsenzweige in Ritzen und Hohlräume ihrer Häuser und füllten sie in die Zwischendecken beim Hausbau. So blühte das Geschäft mit großen Mengen an Hülsenholz, nicht nur zur Weihnachtszeit. Um die schwindenden Ilexbestände nicht noch weiter zu gefährden, wurde der aktuell geehrte Baum 1935 unter gesetzlichen Schutz gestellt. Seitdem ist es also eindeutig verboten, Hülsenzweige abzubrechen, zu entwenden oder sogar Pflanzen auszugraben! Welch eine Wende: Was einstmals als „Unkraut“ und „böse“ galt, wird nun geachtet! Demgegenüber gedeihen die Bestände in unserem Umfeld gut, und in Zeiten des Klimawandels weiten sie sich vom westlichen Mitteleuropa sogar in Richtung Osten aus.
Wer heutzutage den Baum des Jahres 2021 gerne als interessanten Hausnachbarn ständig beobachten möchte, der kann sich wunderschöne und unempfindliche kultivierte Sorten ganz legal in Baumschulen und Gartencentern aussuchen.