von Jochen Roß
Ein kleiner Singvogel mit leuchtend rotoranger Kehle und Brust sowie großen Kulleraugen, die bei vielen Menschen eine Kindchenschema-Wirkung auslösen, mit leicht hängenden Flügeln und in den Städten mit verblüffend geringer Fluchtdistanz zum Menschen: Der Sieger bei der Wahl zum Vogel des Jahres 2021 heißt Rotkehlchen, aus der Familie der Fliegenschnäpper!
Der Deutsche Bund für Vogelschutz, Vorgänger der größten deutschen Naturschutzorganisation Nabu, hatte die Wahl eines Jahresvogels im Jahr 1971 begonnen mit dem Ziel, auf bedrohte Tiere und Lebensräume aufmerksam zu machen. Den Auftakt bildete damals der am Rande der Ausrottung stehende Wanderfalke, und seine Wahl führte schließlich zur Rettung und langfristigen Bestandserholung dieser schnellsten Vogelart weltweit, eine Erfolgsgeschichte! Zur 50. Wahl des Jahresvogels sollte die Bevölkerung die Möglichkeit haben, sich an der Entscheidung zu beteiligen, und so durfte sie diesmal den Sieger bestimmen. Tatsächlich nutzte etwa eine halbe Million Menschen diese Gelegenheit. Gewählt wurde letztendlich ein keinesfalls bedrohter, sondern allgemein als „niedlich“ und „süß“ eingeschätzter Singvogel.
Das Winterröschen
Das Rotkehlchen fällt in unserem menschlichen Siedlungsgebiet durch seinen unermüdlichen, feinen, hellen Gesang selbst an dunkelsten Wintertagen auf. Damit ist es schon seit Jahrhunderten als „der Wintervogel“ schlechthin sehr populär. In milden Wintern singen zwar auch Meisen schon früher als gewohnt. Aber das Rotkehlchen steckt wetterunabhängig bereits zu Beginn eines Winters sein Revier ab durch seinen melancholisch-perlenden Gesang. Die Nähe zum Menschen lockt aus ganz praktischen Gründen: Hier ist der Boden oft vom Schnee geräumt, Essensreste fallen an, und in den Hausgärten bieten sich Restbeeren oder nicht weggeräumte Samenstände an, außerdem werden zunehmend mehr Vogelhäuschen beständig mit leckerem Weichfutter gefüllt. In manchen Gegenden Deutschlands ist das Rotkehlchen noch unter dem Namen Winterrötel bekannt, und Alfred Brehm nannte es vor mehr als 150 Jahren in seinem „Illustrirten Thierleben“ Winterröschen. Noch bis ins beginnende 20. Jahrhundert waren diese beiden Namen sehr verbreitet.
Standvogel oder Zugvogel?
Wenn nun das Winterröschen bei uns zu den typischen Wintervögeln zählt, so scheint es doch sehr widersprüchlich zu sein, es gleichzeitig als „Zugvogel“ einzuordnen. Grundsätzlich gilt, dass die nördlichen Populationen Zugvögel sind und die südlicheren Standvögel. Der Vogelzug unserer heimischen Rotkehlchen fällt aber kaum auf, weil sie allein fliegen, und das geschieht auch noch schwerpunktmäßig nachts. Es spricht vieles dafür, dass hauptsächlich die Weibchen und die juvenilen Männchen ziehen, und zwar nach Süddeutschland, bis Südfrankreich oder in den Mittelmeerraum. Zum Winterende kehren sie zurück, und die Weibchen begutachten die Revierangebote der Männchen. Hinsichtlich des Zugverhaltens verwirrt gerade in den Wittener Breiten ein weiteres Phänomen: Populationen aus Nordeuropa sind zwar Zugvögel und ziehen im Herbst „in den Süden“. Dieser Zug kann für sie aber durchaus in Westdeutschland als einem relativ milden Winterquartier enden. So sind die Winterrötel an unseren Futterhäuschen oft zugereiste Winterflüchtlinge aus Dänemark oder Schweden und gar nicht die Rotkehlchen, die uns im Frühjahr beim Umgraben zugucken! Sie ziehen im Spätwinter wieder in ihre nordeuropäische Heimat zurück. Innerhalb Europas spielt sich also alljährlich eine Verlagerung der Populationen von Nord nach Süd und umgekehrt ab. Im übrigen sind Rotkehlchen treue Europäer: Außerhalb unseres Kontinents kommen sie kaum vor!
Heller wehmütiger Gesang
Als sehr ungewöhnlich fallen bei Rotkehlchen gleich zwei Eigenarten auf: Beide Geschlechter sehen mit ihrer orangeroten Brust und dem hellen Bauch gleich aus, das Weibchen ist lediglich etwas kleiner! Nur Jungvögel unterscheiden sich durch ihre zunächst eher braune Brust deutlich von den Erwachsenen. Die zweite auffällige Eigenschaft ist die Tatsache, dass nicht nur die Männchen, sondern gleichermaßen auch die Weibchen während der Brutzeit singen und so zur Sicherung des Reviers beisteuern. Allerdings singen die Weibchen etwas kürzer und leiser. Rotkehlchen tragen ihren für uns Menschen eher schwermütig klingenden Gesang gerne von einer Sitzwarte aus vor. Mit seinen mehr als 200 verschiedenen Motiven ist er sehr vielseitig und anspruchsvoll. Die hohen perlenden Töne der unermüdlichen Sänger erklingen auch nachts! Es ist sogar erwiesen, dass urbane Paare an tagsüber besonders lauten Plätzen dem Stadtlärm ausweichen und nachts deutlich intensiver singen als bei Tageslicht! Kein Wunder, dass für solch anstrengende „Dauerkonzerte“ beide Partner gefordert sind! Der typische Rotkehlchenvortrag mit seinen kleinen Aussetzern ist übrigens ein guter „Hörtest“ für Vogelfreunde: Ein Rotkehlchen singt seine langen Strophen nämlich durchgehend, darunter sind auch Noten von sehr hoher Frequenz, die aber von vielen Menschenohren gar nicht wahrgenommen und daher als Pause empfunden werden!
Die Farbe Rot
Rotkehlchen huschen gern in kurzen Sprüngen nah am Boden umher. Mit ihren großen Kugelaugen sind sie hervorragend ausgerüstet, um sich im Halbdunkel des Brombeergebüschs oder des Reisigholzes sicher zu bewegen. In luftige Höhen fliegen sie nur ungern, um sich nicht schutzlos den vielen feindseligen größeren Vögeln anzubieten. So unauffällig sie also leben, so aggressiv reagieren sie auf die markante rote Brustfarbe eines Konkurrenten! Selbst die im Frühjahr eintreffenden Weibchen mit ihrer roten Brust werden vom Männchen zunächst eher misstrauisch und derb empfangen. Versuche ergaben, dass eine braune Vogelattrappe im eigenen Revier gar nicht beachtet wird. Sobald aber ein roter Anstrich auf dem Bild erscheint, greift das Männchen die Attrappe wütend an! Ein rotes Wollknäuel im Gebüsch eines Rotkehlchenreviers wird ebenfalls attackiert!
Lieber hinterm Grasbüschel als im alten Schuh
Ihr Nest bauen die Altvögel gerne bodennah hinter Grasbüscheln und Wurzeln, in Baumhöhlen, Böschungen oder in dichtem Gesträuch versteckt. Nur äußerst wenige wählen im Notfall die berühmten Töpfe, Dosen oder Schuhe, die dann in der Presse hervorgehoben werden. Ab Ende März bebrütet das Weibchen allein das Gelege mit etwa sechs Eiern. Es lässt sich beim Brutgeschäft lediglich ganz kurz vom Männchen außerhalb des Nestes füttern. Nach dem Schlüpfen sind die Jungen im bodennahen Nest noch blind und öffnen erst sechs Tage später die Augen. In dieser Zeit sind sie äußerst gefährdet durch Füchse, Marder, Ratten, auch durch Schnecken und Käfer! Nur zwei Wochen Nestzeit sind dem Nachwuchs vergönnt! Anschließend darf er – noch flugunfähig - weitere acht Tage außerhalb des Nestes verbringen, an denen er von den Eltern betreut und gefüttert wird. Nach Ablauf dieser drei Wochen verdrängen die Altvögel ihre Jungvögel aber gewaltsam aus dem Revier, sie müssen sich allein versorgen! In der Regel ziehen die Eltern eine zweite, unter günstigen Umständen sogar noch eine dritte Brut auf. Dazu wählen sie aber jeweils einen neuen Standort und bauen ein neues Nest! Die Jungvögel indessen sind relativ gut getarnt mit ihrer gesprenkelten braunen Brust und huschen bald unauffällig am Boden umher auf der Suche nach kleinen Insekten und Würmern, Spinnen sowie Nacktschnecken. Mit ihrem spitzen „Pinzettenschnabel“ können Rotkehlchen keine Körner knacken! Deshalb müssen sie sich im Herbst auf Beeren und feinste Samenkörner umstellen!
Begleiter der Gartenarbeit
Nach dem Brutgeschäft etwa im Juli ziehen sich die Rotkehlchen für zwei bis drei Monate zur Mauser zurück. Das ist für sie im ganzen Jahr die einzige ruhige, gesangslose Zeit! Obwohl ihr ursprünglicher Lebensraum Auwälder bzw. feuchte Wälder mit schützendem Unterholz waren, begleiten sie heute gern die Menschen im Siedlungsbereich bei ihrer Gartenarbeit. Das ist allerdings keine Sympathiebekundung! Das gärtnerische Jäten und Umgraben legt lediglich Teile des Bodens mit seinen vielfältigen Lebewesen frei und erleichtert so die Nahrungsbeschaffung. Der Gärtner übernimmt eigentlich nur die Rolle des Schweins im ursprünglichen Rotkehlchen-Waldbiotop. Dort folgten sie schon immer den Spuren der im Boden wühlenden Wildschweine!
Als Bruthilfe werden im Handel für Rotkehlchen geeignete Halbhöhlen angeboten. Um aber als Brutplatz angenommen zu werden, muss ein Garten schon einen deckungsreichen Bodenbewuchs und ein gutes Insektenangebot liefern: blühfreudige und beerentragende heimische Gebüsche, Reisighaufen und dornenbesetzte Sträucher, die Schutz vor Katzen bieten. Naturnahe Steinmauern als Insektenbiotop anstelle von Koniferen sind ebenfalls hilfreich. Ohne solch ein naturnahes Umfeld wird auch die schönste Halbhöhle nicht angenommen.
Auch künftig möchte der Nabu die Wahl des Jahresvogels in die Hände der Bevölkerung legen. Jedoch wird ein Verbandsgremium vorher jeweils eine Auswahl von fünf aktuell bedrohten Vogelarten festlegen, damit die ursprüngliche Absicht des Wettbewerbs wieder in den Blickpunkt gerückt wird.